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  • AutorenbildDaniela

Filmrezension Tomaso Clavarino: Ghiaccio – Sweeping Lives.

Die Dokumentation „Ghiaccio – Sweeping Lives“ erzählt die Geschichte von sechs jungen Asylbewerbern aus Gambia und Sierra Leone. In einer Kleinstadt in Italien warten sie auf ihre ungewisse Zukunft.


Kebba, James, Edward, Seedia, Lamin, und Joseph warten seit ihrer Ankunft in der Kleinstadt Torre Pellice bei Turin auf ihre Aufenthaltsgenehmigung. Zwei der Männer haben sich im Oktober 2016 auf einem Boot nach Italien kennengelernt. Heute sind alle sechs ein eingespieltes Curling-Team. Das Eisstockschießen war Teil eines Inklusionsprojekts der Waldensischen Diakonie, einer gemeinnützigen kirchlichen Einrichtung. Die Dokumentation basiert auf einer Fotoreportage über das Projekt und die jungen Männer, die der italienische Dokumentarfotograf und Filmemacher Tomaso Clavarino für die Diakonie gemacht hat. Ziel war es zu zeigen, wie Projekte, die Asylbewerber*innen aufnehmen und fördern, erfolgreich zur Inklusion beitragen können.


Eisstockschießen gibt Halt.

Doch „Ghiaccio – Sweeping Lives“ zeigt nicht nur die Geschichte eines erfolgreichen Inklusionsprojekts. Clavarino ist eine ausgewogene Mischung aus Alltag, Angst vor der Abschiebung, persönlicher Fluchterfahrung und Zusammenhalt gelungen. „Ghiaccio“ ist italienisch und bedeutet Eis. Eine Eishalle von innen hatten die sechs Männer noch nie gesehen. Einer erzählt, dass das Eisstockschießen ihm geholfen habe, mit den Qualen, die er erlitten hat, umzugehen. Und man merkt, wie ambitioniert alle an die Sache herangehen. Vom ersten Spiel bis zum Finale: volle Konzentration und Fokus. Ihr Ziel ist das Meisterschaftsfinale. Nur selten merkt man ihnen die Angst vor einer Abschiebung an, die über all dem schwebt. Doch wenn die Kamera die Männer in ihrem Alltag begleitet, beim Spazierengehen oder Sporttreiben, wenn die Gruppeneuphorie der Ruhe weicht, dann ist spürbar etwas anders.


„Euer Leben hängt davon ab, was eine andere Person sagt.“


Im Oktober 2018 hatte der italienische Präsident Sergio Mattarella das vom früheren rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini auf den Weg gebrachte „Sicherheitsdekret“ unterzeichnet.

Das Dekret erschwert die Bedingungen, um dauerhaft Asyl in Italien zu erhalten und verschärft die Abschiebebedingungen. Die Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen wurden stark eingeschränkt. Nur noch Kriegsflüchtende oder Menschen, die politisch verfolgt werden, wird dauerhaft Asyl gewährt. Was die jungen Männer in den zwei Jahren seit ihrer Ankunft in Italien geschafft haben, spielt für die Beurteilung, ob sie bleiben dürfen oder nicht, keine Rolle mehr. Einer der jungen Männer fragt, ob denn der Präsident gezwungen wurde, das Dekret zu unterschreiben. Es gebe doch eine Verfassung.


Diese fast naiv wirkende Frage führt den Zuschauenden die Tragik der europäischen Migrationspolitik deutlich vor Augen.


Kein vor und kein zurück.

Die persönlichen Fluchterfahrungen der Männer zeigen, dass es sich die europäischen Behörden zu leicht machen. Wer flieht, weil er gezwungen wurde, dem Geheimbund von Sierra Leone beizutreten, wer zur politischen Opposition in Gambia gehörte, der kann nicht einfach so zurück gehen. Wer nicht weiß, wohin, für den ist Italien die einzige Option. Einer der jungen Männer meint, selbst wenn er keine Dokumente bekomme, würde er bleiben. Es gebe für ihn „kein zurück und kein voran“.


Online-Premiere der ethnocineca.

Am 7. Mai 2020 feierte „Ghiaccio – Sweeping Lives“ im Rahmen des internationalen Dokumentarfilmfestivals ethnocineca Österreichpremiere. Für die corona-bedingte Online-Version des Festivals wurden acht Filme ausgewählt, die die Ausdauer des Menschen in Zeiten politischer und ökologischer Umbrüche, bei Vertreibung und Flucht festhalten. Tomaso Clavarino ist diese Auseinandersetzung auf ehrliche und zugleich humorvolle Weise gelungen. Seine Dokumentation wirft einen realistischen Blick auf die Bedingungen, denen Asylbewerber*innen in Italien und anderswo in Europa gegenüberstehen.


Österreichs restriktive Migrationspolitik.

Die Dokumentation erinnert an Österreich, das sich unter Bundeskanzler Kurz seiner restriktiven Migrationspolitik rühmt. Durch das im November 2017 verabschiedete Fremdenrechtsänderungsgesetz wurde die Wohnsitzauflage für Asylbewerber*innen nochmals verschärft. Für Menschen, die internationalen Schutz in Österreich beantragt haben, gilt seitdem eine Wohnsitzbeschränkung auf ein einziges Bundesland. Bei Übersiedlung drohen eine Geldstrafe oder bis zu drei Wochen Haft. Das gilt für die ganze Zeit des meist mehr als ein Jahr andauernden Asylverfahrens. Außerdem dürfen Asylsuchende während dieser Zeit ihre Familie nicht nachholen und nur eingeschränkt arbeiten.


Zwischen Warten, Hoffnung und Zusammenhalt.

Für die sechs jungen Männer jedenfalls zieht sich ihr Asylverfahren noch länger hin. Die Kommission lehnt ihre Anträge ab. Alle Integrationsbemühungen scheinen nichtig. Ein Richter kann die Entscheidung aufheben. Aber bis zur Berufung zum Gericht dauert es. Im Januar 2020, sieben Monate nach den Dreharbeiten, warten alle sechs Protagonisten noch immer auf ihren Gerichtstermin. Sie alle haben bereits Arbeitsverträge, doch sie wissen nicht, ob sie in Italien bleiben können.

Trotz all der Rückschläge; der Zusammenhalt im Curling Team scheint ungebrochen. Und der 4. Platz im Finale scheint nur noch ein Nebenschauplatz der gewonnenen Freundschaften und der Freude am Spiel zu sein. Die Dialoge zwischen den Männern sind hoffnungsvoll, mitreisend und traurig zugleich. Die Dokumentation gibt den vielen Zahlen und anonymen Fällen ein schonungslos ehrliches und aufrichtiges Gesicht.


Filmrezension für das Paulo Freire Zentrum.

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